Zwei Monate nach der Befreiung Berlins versammelten sich etwa zweihundert Menschen zu einer Gedenkfeier im britischen Sektor Berlins, in den aufgeräumten Ruinen der Synagoge Pestalozzistraße.
In einem Brief an seineFrau beschreibt ein amerikanischer GI den Gottesdienst als „extrem beeindruckend“, „alle weinten“ und „einer der Männer entzündete dasewige Licht“. Die Zeremonie begann mit Lewandowskis Schehechejanu, ein Segen für besondere Anlässe und in Danksagung ungewöhnlicherEreignisse, vorgetragen von Oberkantor Leo Gollanin (1872 – 1948),der den Krieg in Berlin überlebt hatte.
Der gesamte Gottesdienst wurdeauf dem Harmonium begleitet, und dem GI zufolge zeigte die Musikeinen „unverkennbaren Versuch, zu den alten Zeiten zurückzufinden“– die „alten Zeiten“ bezogen sich auf die Ästhetik der Zeit vor Weimar, mit ihrer starken Hinwendung zu Lewandowskis Werk.
Als einer der einflussreichsten Komponisten der Synagogenmusik des 19. Jahrhunderts hatte Louis Lewandowski zu seinen Lebzeiten durch seine Tätigkeit als Lehrer an der Jüdischen Freischule und amJüdischen Lehrerseminar in Berlin einen starken Einfluss auf den westlich-aschkenasischen Stil ausgeübt.
Auch nach seinem Tod im Jahr 1894 wurden seine Werke in den jüdischen Gemeinden des deutschsprachigen Europas und darüber hinaus weithin rezipiert.Tief verwurzelt in den mit Moses Mendelssohn und seinen Nachfolgernverbundenen Ideen der Haskala, balancierte Lewandowskiästhetische und religiöse Aspekte in einzigartiger Weise und erhielt damit die traditionelle liturgische Musik in veränderter Form.
Während einer Zeit der musikalischen Akkulturation und der zunehmendenAuflösung von Synagogengesang verband er in überzeugender Weise das „Erbe“ mit den zeitgenössischen Ausdrucksweisen der Musikwelt. Dieser dialektische Zugang zum jüdischen musikalischen Erbe sicherte ihm auch im frühen 20. Jahrhundert einen fortdauerndenEinfluss, trotz geschwächter Rezeption.
Inzwischen war Lewandowskis Musik auch in der Neuen Welt angekommen, wo aschkenasische und einige sefardische Synagogen ausgewählte Stücke adoptierten.Lewandowski wurde ebenfalls im Ghetto von Schanghai und in Japan und Australien gehört. Auf Hebräisch oder in deutscher Übersetzung,mit gemischtem oder Männerchor oder gar ohne Chor, mit oder ohne Orgelbegleitung, wurde Lewandowskis Synagogenmusik wahrlich konfessionsübergreifend. Gleichzeitig wandelte sich derRaum, den Lewandowskis Musik einnahm; er dehnte sich nun aufdie sich etablierenden Synagogenkonzerte aus, wurde aber gleichzeitig von neuen Werken aufstrebender Komponisten abgelöst.
Nach 1945 verlagerte sich dies nochmals, mit einer erneuten Präsenz in der Nachkriegslandschaft Berlins, eines geteilten Deutschlandsund darüber hinweg. Die Synagoge Pestalozzistraße führte den Lewandowski-Gottesdienst aus der Neuen Synagoge Oranienburger Straße mit gemischtem Chor und Orgel weiter.
Gemeinden ohne Kantor oder Chor, von denen es im Nachkriegseuropa viele gab, und alle interessierten Hörer unabhängig von ihrer Glaubensrichtung konnten Lewandowski über den Äther hören, in Sendungen, dieAdolf Schwersenz 1946 für den RIAS Berlin initiiert hatte und die später auch von anderen Stationen übernommen wurden. Ebenso wurde der Brauch der Synagogenkonzerte in der Nachkriegszeit bereits 1946 in der Pestalozzistraße wieder aufgenommen, und Lewandowski stand selbstverständlich auf dem Programm.
Durch ihre Präsenz in Konzerten spielte Lewandowskis Musik eine bedeutendeRolle beim Aufbau eines interreligiösen Dialogs und eines gegenseitigen Verständnisses zwischen sehr unterschiedlichen Publikumsgruppen im deutschsprachigen Europa und darüber hinaus.Die Gegenwärtigkeit von Lewandowski in verschiedenen Kontexten und multivalenten Räumen zeugt von seinem ungebrochenen und gar sich erweitertenden Erbe.
„Bleibt Lewandowskis Werk bestehen?“,fragte 1952 der ehemalige Oberkantor der Berliner Fasanenstraßen-Synagoge Magnus Davidsohn. Die Gründung des Louis Lewandowski Festivals 2011, das jährlich das Erbe des Komponisten in Gottesdienst und Konzert zelebriert, nicht voraussehend, gab er eine Antwort, die noch über ein halbes Jahrhundert später gültig ist: „Bis heute haben sie nichts an ihrer Bedeutung verloren.“
Prof. Dr. Tina Frühauf
AN UNBROKEN LEGACY
Two months after the liberation of Berlin two hundred people gathered for a memorial service in the British sector of Berlin, in the cleaned-up ruins of the Pestalozzistrasse Synagogue. In a letter, an American GI describes this service to his wife, saying it was “impressive in the extreme,” “everyone wept,” and “one of the men switched back on the Eternal Light.” The ceremony began with Lewandowski’s setting of the Shehechiyanu, a blessing to celebrate special occasions and to give thanks for unusual experiences, then chanted by 73-year old Chief Cantor Leo Gollanin (1872 – 1948), who had survived the war in Berlin.
Dr. Gideon Joffe | Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
It is largely thanks to the great reformer of synagogal music that the traditional Jewish prayer service took on a new form.
Louis´Lab 2017
At last year’s festival, a concert of a different kind took place for the first time with the support of the mayor of Treptow-Köpenick, Oliver Igel.
Michael Müller | Regierender Bürgermeister von Berlin
I would like to welcome all musicians and guests to the 7th Louis Lewandowski Festival.
Nils Busch-Petersen | Festival director
Liebe singende und lauschende Teilnehmende am 7. Louis Lewandowski Festival, seienSie herzlich willkommen!
St. Nikolai, Potsdam
Erstmals gastiert das Louis Lewandowski ineinem der bedeutendsten BauwerkePotsdams: der evangelischen Kirche St. Nikolai. Die gewaltige Kuppel, unter anderem von der St.-Pauls-Kathedrale in London inspiriert, bildet den charakteristischen Mittelpunkt der Stadt.