ISRAEL MEYER JAPHET (1818-1892),

aus Kassel, war nicht nur ein bekannter Grammatiker, der in seinen zahlreichen Hebräischen Sprachlehren und Grammatikbüchern neue Lehrmethoden verwendete, sondern er leite- te von 1852 bis 1892 auch den Chor der orthodoxen Gemeinde in Frankfurt am Main.

So wie bei Sulzer und Lewandowski wirkte sich die Reformbewegung auch in seinen Kompositionen und in seiner Lehre aus. Auch Japhet führte den Chorgesang in seiner Synagoge ein, da er der Ansicht war, dass ein Chor eine Wiederbelebung des Synagogengebetes darstellt.

Seine Kompositionen wurden wegen ihrer melodiösen Einfachheit und unkomplizierten klassischen Harmonie geschätzt und weil so viele von ihnen auf bestehenden Synagogenliedern beruhten, die auf die Zuhörer wie Volkslieder wirkten und leicht zu singen waren. Japhets Arbeit wurde auch von der Allgemeinheit so hoch geschätzt, dass die Einführung zu seiner Komposition »Schire Jeschurun«, einer Sammlung von 101 Synagogenmelodien, bei der ersten Veröffentlichung Empfehlungen von namhaften Komponisten wie Giacomo Meyerbeer und Louis Spohr enthielt.

EMANUEL KIRSCHNER (1857-1938),

Löwensteins Nachfolger im Amt, war der Sohn eines Bäckermeisters aus Oberschlesien, sang aber schon als Jugendlicher im Synagogenchor, studierte dann am Lehrerseminar der Berliner Gemeinde und sang in Lewandowskis Chor an der Neuen Synagoge Oranienburger Straße, bis er nach München wechselte und zunächst an der Synagoge Westenriederstraße, dann an der 1887 neu errichteten Hauptsynagoge an der Herzog- Max-Straße amtierte.

Daneben trat Kirschner als Solist auf, u.a. mit Liedern von Schubert, Schumann, Mendelssohn-Bartholdy und Wagner. Seine herausragende Gesangskunst trug ihm 1893 eine Berufung an die Königliche Akademie der Tonkunst als Lehrer für Sologesang und damit den Professorentitel ein. Vor allem aber war er Kantor und Komponist. Seine bekanntesten Werke sind die »Trauungsgesänge« für Kantor und Chor mit Orgelbegleitung von 1883 und die vier Bände der Gesänge für Kantor und Orgel »Tehilloth le-El Eljon«, die mit mehr als 100 Kompositionen zwischen 1897 und 1926 erschienen.

Der Musikwissenschaftler Abraham Zvi Idelsohn lobte damals: »Der größte unter den lebenden Komponisten der Synagogenmusik in Deutschland ist gegenwärtig Emanuel Kirschner – Kantor und musikalischer Führer in München… Erfüllt von echt jüdischem Geist, mit feinem Musikverständnis und bestens ausgebildet in der klassischen und religiösen Musik, bemüht er sich sein ganzes Leben lang, den Musikstil des Synagogeniedes zu verfeinern, ohne jedoch dabei dem echt jüdischen Charakter des Gesangs untreu zu werden.«

Als am 8. Juni 1938 der Israelitischen Kultusgemeinde in München eröffnet wurde, dass am folgenden Tag die Synagoge an der Herzog-Max-Straße abgerissen werde, bat die Gemeinde den hoch betagten Kirschner noch einmal, den Schlussgesang im Abschiedsgottesdienst vorzutragen. Er selbst schrieb wenig später: »Als ich, mit gebrochenem Herzen die Treppe zum Almemor hinanstieg, als ich zwar demütig, aber dennoch mit klarer Stimme die meinem Herzen entströmenden Worte zu sagen begann »T’philloh l’oni ki jaatof‘ (Ein Gebet des Elenden, wenn er betrübt ist und seine Klage vor dem Ewigen ausschüttet) und tiefe Ergriffenheit in der die Synagoge füllenden Gemeinde auslöste, dankte ich meinem Schöpfer, der mir diese Widerstandskraft verlieh.«

Emanuel Kirschner starb drei Monate nach dem barbarischen Abriss der Hauptsynagoge im Jüdischen Altersheim München.

HUGO ADLER (1894-1955),

beeinflusste wiederum in einer anderen süddeutschen Gemeinde die Musikliturgie. Er hatte in seiner Jugend im Chor des berühmten Kantors Yossele Rosenblatt in Hamburg gesungen, dann Musik in Köln studiert und 1921 schließlich eine Stelle als Kantor an der Hauptsynagoge in Mannheim angetreten. Adler unterrichte hier daneben Musik und Religion. Adler komponierte, u.a. vertonte er von Franz Rosenzweig übersetzte hebräische Poesie, führte häusliche Gesänge in die Liturgie des öffentlichen Gottesdienstes ein und leitete verschiedene Chöre und Instrumentalensembles in der Synagoge. Daneben war er Tenor im »Feiertags-Chor« und im Männergesangsverein »Liederkranz« und studierte am Mannheimer Konservatorium Komposition bei Ernst Toch.

So wurden seine Lehrkantate »Licht und Volk« für Sing- und Sprechchöre sowie Instrumente 1930 und die biblische Szene »Balak und Bilam« 1934 in Mannheim uraufgeführt.

Nach 1933 konnten Adlers Werke nur noch in Synagogen und im Rahmen des Jüdischen Kulturbundes gespielt werden. Sein letztes in Deutschland komponiertes Stück war die Kantate »Akedah«. Sie sollte am 9. November 1938 in Stuttgart uraufgeführt werden. Während der Proben kam es jedoch zu einem Übergriff durch Nazis, die auch Adlers Partituren zerstörten (nur ein einziger Klavierauszug blieb erhalten).

Am 10. November 1938, am Tag nach der Absetzung von »Akedah« und der Zerstörung der Mannheimer Hauptsynagoge, versuchte Adler in die Niederlande zu fliehen. Er wurde jedoch an der Grenze aufgegriffen und inhaftiert. Nach seiner Entlassung emigrierte er Ende 1938 über die Niederlande in die USA. Er wurde 1939 Kantor am Temple Emanuel in Worcester, einer Reformgemeinde, die ein ausgeprägtes Musikprogramm pflegte, zu dem nun auch Adler beitrug. Er leitete wieder verschiedene Chöre und organisierte über viele Jahre das Annual Jewish Music Festival. Hier wurden auch seine Kompositionen, u. a. die Kantate »Jonah«, der Schabbatgottesdienst »Nachalath Israel« und Neufassungen seiner eigenen Werke aufgeführt.

MAX GEORG LÖWENSTAMM (1814-1881),

der aus Mähren stammte und in Wien bei Salomon Sulzer studiert hatte, wurde 1847 nach Anstellungen in Orag und Pest Oberkantor in München und brachte ebenfalls viele eigene Kompositionen in den Chor ein, so eine Kantate zum 50-jährigen Bestehen der Münchner Synagoge 1876.

Wie sehr Juden auch damals schon versuchten, nicht nur ihrem Glauben und ihrer Tradition treu, sondern auch Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein, illustriert vielleicht diese kleine Fußnote: der »Ober-Cantor« Löwenstamm ließ 1867, während der Verlobungszeit Ludwigs mit seiner Cousine Sophie Charlotte im Eigenverlag eine Sammlung hebräischer Gesänge drucken, um die geplante Hochzeit des Königs zu verherrlichen: »Jubelklänge zur allerhöchsten Vermählungsfeier Seiner Majestät Ludwig des Zweiten, König von Bayern, mit Ihrer kgl. Hoheit der Prinzessin Sofie Charlotte Auguste, Herzogin in Bayern«. Die Verlobung wurde am 7. Oktober 1867 allerdings wieder aufgelöst, so dass der Jubel entfiel. Aber immerhin wurde der Druck dadurch zu einer besonderen Rarität.

In den nächsten Generationen waren es Komponisten wie Emanuel Kirschner, Heinrich Schalit und Hugo Adler, die in Süddeutschland wirkten und die Synagogalmusik in eine ganz neue Richtung weiterentwickelten.

HEINRICH SCHALIT (1886-1976),

in Wien geboren, war nach Kirschner Musikdirektor und Organist an der Münchner Synagoge. Für diese Stellung hatte er sich 1927 mit seinen »Seelenliedern« für Gesangsstimme und Klavier und der »Hymne In Ewigkeit« für Chor, Orgel, Harfe und Violine beworben, die beide auf Texten des mittelalterlichen Dichters Judah ha-Levi beruhten, die von Franz Rosenzweig ins Deutsche übertragen worden waren.

Schalit entstaubte die (seiner Ansicht nach für das 20. Jahrhundert zu romantisch, zu harmonisch, zu opernhaft klingende) Musik Lewandowskis und Sulzers und integrierte moderne Elemente – kontrollierte Dissonanzen und einen an Schönberg erinnernden dichten Chor- und Orchestersatz –, aber auch authentische jüdisch-orientalische Melodien in seine Kompositionen. Sein Hauptwerk, die wegweisende »Freitagabendliturgie« für Kantor, einstimmigen und gemischten Chor und Orgel (Opus 29) wurde 1932 in Berlin uraufgeführt. Ein Jahr später emigrierte Schalit in die USA.

JAKOB SCHÖNBERG (1900-1956),

wurde als Sohn eines Kantors in Fürth geboren. Nach dem Studium in Darmstadt und Berlin und nach seiner Doktorarbeit „Die traditionellen Gesänge des Israelitischen Gottesdienstes in Deutschland“ in Erlangen, bestritt Schönberg seinen Lebensunterhalt in den 20er Jahren als Musikkritiker der Nürnberger Zeitung. Als Filmkomponist und musikalischer Berater war er beim Bayerischen Rundfunk.

Die „Prelude Symphonique“ (1923), sein erstes Orchesterwerk, war bereits geprägt von einer orientalischen Melodik, die er in späteren Jahren, auf der Suche nach einem dezidiert jüdischen Stil, weiterentwickeln wird.

1933 wurde Jakob Schönberg aus seinen Anstellungen vertrieben und wechselte nach Berlin, um als Musikkritiker bei der Jüdischen Rundschau unterzukommen.
Musikalisch beschäftigte er sich nun intensiv mit der jüdischen Musikfolklore in Palästina, was sich in seinen Kompositionen widerspiegelt. Erfolgreich war seine Sammlung von 230 hebräischen Gesängen „Schirej Erez Israel“, die 1935 im Jüdischen Verlag, Berlin, veröffentlicht wurde. Die Jüdischen Kulturbünde in Berlin und Frankfurt am Main führten zwischen 1936 und 1938 mehrfach die Orchesterversion der „Chassidische Suite“ auf, die eigentlich für Klavier komponiert worden war. Seine Bearbeitungen palästinensischer Volkslieder, die Schönberg „Neue jüdische Kammermusik“ nannte, zeichnen sich durch minimalistische Ausdrucksmittel aus, wenn zum Beispiel Stücke für Gesang mit Begleitung von Flöte und Bratsche gesetzt werden.

1939 emigrierte Jakob Schönberg nach England und 1948 nach New York City. Schönberg lehrte an der Trinity School in New York und später an der Carnegie School of Music in Englewood. Nach Jahrzehnten der Vergessenheit erschien 2012 eine Doppel-CD mit seinen Liedern und kammermusikalischen Kompositionen.

PAUL BEN-HAIM (FRANKENBURGER) 1897-1984),

wurde als Paul Frankenburger in München, der Hauptstadt Bayerns geboren. Dort arbeitete er nach dem Ersten Weltkrieg als Komponist und war recht erfolgreich.
In einem Gespräch mit seinem Biografen, Prof. Jehoash Hirschberg, beschrieb Ben-Haim die Jüdische Gemeinde in München als eine große und kulturell aktive Gemeinde. In seiner Schilderung wie auch in den Schilderungen der meisten Historiker, die die Geschichte des deutschen Judentums in der Moderne erforschten, erscheinen Juden in Bayern wie die meisten Juden jener Zeit als teilweise assimiliert. Nicht wenige von ihnen versuchten trotzdem, ihre jüdische Identität zu bewahren. Diejenigen, die bestrebt waren, die Tradition aufrechtzuerhalten, waren der Orthodoxie oder dem liberalem Judentum zuzuordnen (genauer Konservativ und Reform). Die bayerischen Juden waren zum größten Teil deutsche Patrioten und nahmen als Soldaten am Ersten Weltkrieg teil. Viele von ihnen wurden als Kriegsteilnehmer ausgezeichnet. Paul Ben-Haim hat die Schrecken des Krieges persönlich erfahren, die einen tiefen Einfluss bei ihm hinterließen.

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