GEDANKEN ZU DEN FRÜHWERKEN VON PAUL BEN-HAIM (FRANKENBURGER)

Von Michael Wolpe

Paul Ben-Haim (Frankenburger)

Geburtsstadt München

Der Komponist Paul Ben-Haim (1897-1984) wurde als Paul Frankenburger in München, der Hauptstadt Bayerns geboren. Dort arbeitete er nach dem Ersten Weltkrieg als Komponist und war recht erfolgreich.
In einem Gespräch mit seinem Biografen, Prof. Jehoash Hirschberg, beschrieb Ben-Haim die Jüdische Gemeinde in München als eine große und kulturell aktive Gemeinde. In seiner Schilderung wie auch in den Schilderungen der meisten Historiker, die die Geschichte des deutschen Judentums in der Moderne erforschten, erscheinen Juden in Bayern wie die meisten Juden jener Zeit als teilweise assimiliert. Nicht wenige von ihnen versuchten trotzdem, ihre jüdische Identität zu bewahren. Diejenigen, die bestrebt waren, die Tradition aufrechtzuerhalten, waren der Orthodoxie oder dem liberalem Judentum zuzuordnen (genauer Konservativ und Reform). Die bayerischen Juden waren zum größten Teil deutsche Patrioten und nahmen als Soldaten am Ersten Weltkrieg teil. Viele von ihnen wurden als Kriegsteilnehmer ausgezeichnet. Paul Ben-Haim hat die Schrecken des Krieges persönlich erfahren, die einen tiefen Einfluss bei ihm hinterließen.

Eine tiefe Freundschaft verband Frankenburger mit Heinrich Schalit

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg kehrte Ben-Haim unmittelbar in seine Heimatstadt München zu seiner professionellen und künstlerischen Arbeit zurück, sei es als Komponist oder Dirigent. Später ging er nach Augsburg. In diesen Jahren entstand eine tiefe Freundschaft zwischen Franken- burger und dem deutsch-jüdischen Komponisten Heinrich Schalit (1886-1976). Wie Ben-Haim selbst in Hirschbergs Buch beschreibt, war Schalit der erfahrenere Komponist der beiden, dessen musikalisches Schaffen zum größten Teil von seiner jüdischen Erziehung, seinem jüdischen Hintergrund sowie seinem Interesse für die zionistische Bewegung geprägt war.

Schalit komponierte einen großen Korpus liturgischer Musik für die liberalen Synagogen Münchens

Er strebte einen neuen Stil an, der sich von dem Lewandowskis und Sulzers unterschied. Es sollte keine Nachahmung kirchlicher Musik sein. Stattdessen wandte er sich den Ur- sprüngen jüdischer Musik als Quelle der Inspiration für seinen „Neuen Jüdischen Musikstil“ zu. Er kannte sich gut aus in der biblischen Kantillation (in Hebräisch „Te’amim“) mehrerer jüdischer Traditionen einschließlich der aschkenasischen und sephardischen sowie den jüdischen Tonleitern, auch Steiger genannt. Daraus schuf er eine persönliche musikalische Sprache. Sie basierte auf Modi, die den Hijaz-Tonleitern der spanischen Juden und dem „Ahava Raba-“ (eine große Liebe) Modus der chassidischen Musik nahestanden. Über seine künstlerische Vision und seine individuelle Technik verfasste er einen Artikel, der 1931 veröffentlicht wurde.

Heinrich Schalit übte einen großen Einfluss auf den jungen Frankenburger aus

Als dieser als Organist und Komponist in der Großen Synagoge in München amtierte, lud er seinen jungen Freund ein, eine Anzahl Werke für die Synagoge zu komponieren. Diese liturgischen Werke Frankenburgers befinden sich in der Nationalbibliothek in Jerusalem. Darunter findet man das Werk „Psalm Kapitel 12“ für vier Solisten, gemischten Chor und Orchester, das 1923 komponiert wurde, „Drei Motetten“, basierend auf Texten aus Jesaja und Hiob und andere Werke auf der Grundlage des Buchs der Psalmen, der Prediger und des Buchs Jesaja. Sämtliche dieser Werke wurden in den späten 1920ern und frühen 1930ern komponiert.
Heinrich Schalits Sohn, Michael Schalit, der über seinen Vater eine Biografie verfasste, ist davon überzeugt, dass Heinrich Schalit seinen Freund Frankenburger in seine Vorhaben auf dem Gebiet der Synagogalmusik einbezog. Laut Michael Schalit haben die beiden Freunde einige Konzerte organisiert, an denen ihre eigenen Werke aufgeführt wurden. Er ist auch der Auffassung, dass Frankenburgers Chorwerke zu dieser Zeit vom Synagogalchor und Orchester dargeboten wurden.

Eine weitere Aufführung der „Drei Motetten“ fand im Mai 1930 anlässlich der „Bayerischen Komponistenwoche“ in Augsburg statt. Bei demselben Festival wurden Schalits „Himmlische Gesänge“ aufgeführt. Frankenburgers Kompositionen wurden von den Kritiken positiv rezipiert, so auch in der Schwäbischen Volkszeitung.
Nach einem Studium der Partituren, die in der Nationalbibliothek aufbewahrt sind, kann man sagen, dass der liturgische Stil Frankenburgers sowohl mit der deutschen postromantischen Schule als auch mit der Deklamationstechnik in der deutsch-jüdischen liberalen Synagoge im Zusammenhang steht.

Er hinterließ ein Testament, das die Vernichtung aller vor 1933 entstanden Werke bestimmte

Es soll ebenfalls darauf hingewiesen werden, dass Ben-Haim viele Jahre nach seiner kurzen liturgischen Phase in seiner deutschen Karriere und nach seiner Einwanderung in Israel ein Testament hinterließ, in dem er seinen Schüler, den Komponisten Ben-Zion Orgad (1926-2006) anwies, alle vor 1933 in Deutschland komponierten Werke zu vernichten. Später scheint Ben-Haim ignoriert zu haben, was er in seinem Testament ge- schrieben hatte, da er Lieder aus seiner Frankenburger-Zeit in verschiedenen Konzerten in den 1970er Jahren und Anfang der 1980er Jahre hören wollte. Jedoch bestand Ben-Zion Orgad, der für das Testament seines Lehrers zuständig war, nach Paul Ben- Haims Tod darauf, dass keine deutschen Werke Paul Franken- burgers öffentlich zur Aufführung gelangten. Zwar sah er davon ab, die Werke zu vernichten, wie Ben-Haim in seinem Testament verfügt hatte, doch war er überzeugt, dass jegliche Aufführung oder Veröffentlichung dieser Werke dem letzten Willen des Komponisten widersprochen hätten. Trotz alledem sind viele Werke aus dem Frankenburger-Archiv im letzten Jahrzehnt aufgeführt, manche von ihnen sogar aufgenommen und veröffentlicht worden.
Die Aufführungen des Oratoriums „Yoram“ sowie recht vieler faszinierender Kammermusik  – und Chorwerke, sind ein wichtiger Meilenstein im Verständnis von Ben-Haims künstlerischer Vision. Für mich persönlich ist das eine sehr bedeutende Gelegenheit, diese wunderbaren Frühkompositionen zu hören und erneut Zeuge der Größe dieses hochbegabten und einzigartigen kreativen Künstlers zu werden, vor allem, wenn man bedenkt, dass gerade diese drei Motetten seit nun fast neunzig Jahren nicht mehr aufgeführt wurden. Ab- schließend stelle ich fest, dass die hohe Qualität seines kompositorischen Stils bereits in seinen frühen Werken, als Paul Frankenburger in den 1920er und 1930er Jahren in München und Augsburg, geprägt wurde und gereift ist.