Das östliche Firmament
Musik der osteuropäischen
„Chor Shul“
Louis Lewandowski Festival 2015
Die Entstehung des Chor-Shul Stils in Osteuropa
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich die osteuropäische jüdische Kultur dem Westen zu öffnen. Besonders beeindruckt waren Kantoren und Laien von der Musik für Kantor und Chor, die von Salomon Sulzer (1804-1880) im Wiener Tempel gesungen wurde. Dieser Stil, stark beeinflusst von der Wiener Klassik, konnte jedoch nicht ohne Weiteres auf die Synagogen Osteuropas übertragen werden. Die Strenge und Nüchternheit der osteuropäischen Liturgie stand im Kontrast zum freieren, emotionaleren musikalischen Stil der jüdischen Gemeinden im Westen.
Die Entwicklung eines neuen musikalischen Stils
Statt den Wiener Stil zu übernehmen, entwickelten die jüdischen Gemeinden Osteuropas einen eigenen Musikstil. Dieser verband die westliche Chormusik mit den östlichen Koloraturen und dem emotionalen Gesang der Kantoren. Dieser neue Stil, der eine einzigartige Mischung aus westlichen und östlichen Elementen darstellte, wurde schnell populär und führte zur Entstehung zahlreicher Chor-Shul Synagogen in ganz Osteuropa. Jede dieser Synagogen hatte einen Kantor und einen Knabenchor, der a capella sang. Besonders berühmt wurde die Brodi-Shul in Odessa, wo Kantor Pinchas Minkowski und Chorleiter David Nowakowski sogar eine Orgel und einen gemischten Chor aus Männern und Frauen etablierten.
Die Verbreitung des Chor-Shul Stils
Die Chor-Shul Synagogen wurden zu einem kulturellen Mittelpunkt, der weit über die reine Religionsausübung hinausging. Viele Juden besuchten diese Synagogen am Schabbat und an Feiertagen, um die beeindruckenden Darbietungen von Chor und Kantor zu erleben, nachdem sie ihre religiösen Pflichten in kleineren Synagogen oder Betstuben erfüllt hatten. Mit der Masseneinwanderung osteuropäischer Juden nach England, Nord- und Südamerika, Südafrika und Israel verbreitete sich der Chor-Shul Stil weltweit. In Städten wie London, wo in der Great Synagogue am Duke’s Place der berühmte Samuel Altman-Chor auftrat, mussten die Massen oft von der Polizei kontrolliert werden.
Der Niedergang und das Erbe der Chor-Shul Tradition
Die Schoah brachte dem Chor-Shul Stil und den Synagogen unermesslichen Schaden. Viele Kantoren, Chorleiter und Sänger wurden ermordet, und die Synagogen, in denen dieser Musikstil gepflegt wurde, wurden zerstört. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlor dieser musikalische Stil an Popularität, da der Gemeindegesang zunehmend in den Vordergrund trat. Trotzdem lebt die Tradition des Chor-Shul Stils in zahlreichen orthodoxen und konservativen Synagogen weltweit weiter, etwa in der Großen Synagoge in Jerusalem oder der Park Avenue Synagogue in New York.
Prof. Dr. Eliyahu Schleifer