STERN DER HOFFNUNG

CHORMUSIK-LANDSCHAFT ISRAELS


Von Dr. Tina Frühauf

Die Grundlage für israelische Chormusik wurde bereits Jahrzehnte vor der Gründung des jüdischen Staates, im Yishuv, der jüdischen Siedlung in Palästina während des britischen Mandats, gelegt. Ende der 1920er Jahre etablierte der gebürtige Russe Shlomo Kaplan (1908 – 1974), einer der Chalutzim oder frühen Pioniere, die ersten Chöre, welche er selbst leitete. Einige Jahre nach der Gründung des Staates Israel wurde er Leiter der Musikabteilung des Histadrut, dem Dachverband der Gewerkschaften. In dieser Funktion war er für Choraktivitäten verantwortlich und trieb den Chorgesang in kollektiven landwirtschaftlichen Siedlungen voran. Fast zeitgleich zu Kaplans Aufbau von Chormusik, sah Israel einen Zustrom von Komponisten, überwiegend aus Europa, die alle daran interessiert waren, die musikalische Identität des Staates aufzubauen und jeweils ihren eigenen Kompositionsstil mit einzubringen. Viele von ihnen schrieben Chormusik.

Das diesjährige Louis Lewandowski Festival widmet sich diesem Repertoire, das die breite und vielfältige Chormusik-Landschaft Israels von den Anfängen des modernen Staates bis heute erfasst und von Komponisten geschaffen wurde, die nach Israel ausgewandert sind oder auf israelischem Boden geboren wurden. Die jüngste Komposition des Genres ist Anna Segals Oratorium Todesfuge. 2016 komponiert, ist sie den Opfern der Schoa und ihrer Großmutter Frida, die überlebt hatte, gewidmet. Die Todesfuge basiert auf dem gleichnamigen Gedicht, das von Paul Celan um 1945 geschrieben und 1948 erstmals veröffentlicht wurde. Es beschreibt anschaulich das Entsetzen und den Tod in einem Konzentrationslager. Segals Oratorium feiert seine Weltpremiere am Eröffnungsabend des Festivals und erinnert an den achtzigsten Jahrestag der Novemberpogrome von 1938.

Wenn auch die Pogrome und die Shoa schwere Brüche der Zivilisation und in der Geschichte markierten, so gab die Gründung des Staates Israel doch Hoffnung und wurde von vielen Komponisten gefeiert, darunter Paul Ben-Haim, der als Paul Frankenburger (1897 – 1984) in München geboren wurde. Seine beeindruckende Fanfare to Israel (1950) für Orchester wurde von der Gründung des modernen Staates inspiriert und wird im Eröffnungskonzert in seiner ursprünglichen Form und im Abschlusskonzert in einer Orgeltranskription eines weiteren Emigranten aus Süddeutschland, Karel Salmon (1897 – 1974), zu hören sein.

Israelische Komponisten haben Chormusik für eine Vielzahl von Anlässen geschrieben die in einer Vielfalt von Texten verwurzelt sind – liturgisch, geistlich und weltlich. Erstere werden im Lechah dodi, Haschkiwenu und Adon olam aus Paul Ben-Haims Kabbalat Shabbat (1966/67) und dem Mismor shir, einem Auszug aus Mark Lavrys Oratorium Sacred Service, op. 254 (1954), repräsentiert. Die von den Sopranen gesungenen Eröffnungsworte („Tov l’hodot l’adonai“) verweisen auf ein traditionelles aschkenasisches Motiv aus dem Kabbalat-Schabbatgottesdienst. Ben-Haim und Lavry (1903 – 1967), der als Mark Levin in Riga geboren wurde, gehörten zu den erfolgreichsten und prominentesten Komponisten des jungen Staats und werden oft mit der Aneignung uransässiger musikalischer Elemente des östlichen Mittelmeers und des Nahen Ostens sowie Einflüssen im Kontext westlicher Formen in Verbindung gebracht – eine Synthese, die emblematisch für die neu kultivierte Kunstmusik des modernen Israel wurde.

Die nachfolgende Komponistengeneration fand ihre eigenen Wege in die Chormusik. Yehezkhel Braun (1922 – 2014) zum Beispiel zeigte lebenslange ein Interesse für hebräischen und gregorianischen Gesang. 1975 verbrachte er gar ein Jahr im Benediktinerkloster von Solesmes in Frankreich, wo er cantus planus studierte. Sein zweifaches Interesse spiegelt sich in vielen seiner Kompositionen wider. Bemerkenswert ist seine Bearbeitung der orientalischen Melodie zum mittelalterlichen poetischen Text „Dror Jikra“ (Möge er Freiheit verkünden). Der antiphonale Stil weicht einem temperamentvollen Tanz zu den Klängen der Darbuka.

Ebenso wichtige Beiträge stammen von Mordecai Seter (1916 – 1994), der als Marc Starominsky in Noworossijsk (Russland) geboren wurde und 1926 nach Palästina gezogen war. Nach seiner Ausbildung in Europa kehrte er 1937 nach Tel Aviv zurück und komponieren dort, beeinflusst von einer Vielzahl von Stilen von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert, aber am stärksten von orientalisch-jüdischer Musik. Dieser Einfluss ist in Al naharot Bavel (An den Wassern zu Babylon, 1950) zu hören, einer Motette nach Psalm 137, in der er aus einem babylonischen Trauerlied schöpft, das eine sich langsam entfaltende, abgedunkelte Atmosphäre erzeugt.

Der Einfluss verschiedener jüdischer Ethnien auf die israelische Chormusik wird auch in Hamavdil / The Sabbath Prayer (1952) von Oedoen Partos (1907 – 1977) deutlich. Hamawdil ist der letzte Segen am Sabbat und lobt Gott dafür, dass er die Trennung zwischen dem Heiligen und dem Profanen vorgenommen hat. Für die erste und vierte Strophe dieser Hymne wählte Partos traditionelle sephardische Melodien und wechselt sie mit „Elijahu hanawi“ ab, das häufig zum Abschluss des Hawdalah-Gottesdienstes gesungen wird, der die Trennung zwischen dem Ende des Sabbats und der neuen Woche markiert.

Anlässlich des siebzigsten Jahrestages Israels zeigt das Louis Lewandowski Festival diese und andere Juwelen der „klassischen“ israelischen Chormusik; es bringt auch populäre und folkloristische Melodien und Arrangements von Naomi Shemer und Gil Aldema zu Gehör sowie Werke von noch lebenden Komponisten wie Tsvi Avni und Avner Itai, der seit mehr als vier Jahrzehnten Israels führender Chordirigent ist. Alle Werke, die während der Festivalkonzerte zu hören sind, zeugen vom Wachstum der israelischen Chormusik und ihrer dauerhaften Präsenz. Diese Präsenz reicht von religiöser Musik und Arrangements von Gebetsliedern bis hin zu jiddischen, chassidischen und zionistischen Repertoires und spiegelt so die grundlegende Vielfalt des Judentums auf israelischem Boden wider.

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