SÜDSTERNE 200 JAHRE SYNAGOGALMUSIK IN SÜDDEUTSCHLAND

Von Judith Kessler

Beim Stichwort Süddeutschland fallen den meisten von uns vermutlich eher Bier, Dirndl und Lederhosen als Juden und Synagogalmusik ein. Und doch haben sowohl Bier* als auch Trachten** eine jüdische Komponente und liegen in Süddeutschland die Wurzeln der modernen Synagogal- und Chormusik.

Es war der Chasan, Sänger und Musikologe Maier Kohn (1802-1875), der noch vor Louis Lewandowski, dem Namensgeber unseres Festivals, 1839 die erste moderne Sammlung von Synagogengesängen herausgab. Diese sogenannten »Münchener Gesänge« waren eine Neubearbeitung und Ergänzung traditioneller Stücke, die Kohn mit Hilfe namhaften Komponisten wie Ett, Hartmann und Naumbourg für die Synagoge in der Münchener Westenriederstraße zusammengestellt hatte. Hier nämlich leitete er seit 1832 den ersten Synagogenchor der bayerischen Hauptstadt und hier wurde er 1843 auch Gemeindekantor (nebenbei betrieb der umtriebige Maier Kohn mit seiner Gattin auch noch ein Erziehungsinstitut für jüdische Mädchen).

Die neue Gesängesammlung jedenfalls erregte großes Aufsehen. Die »Allgemeine Zeitung des Judentums« berichtete schon im Vorfeld, nämlich im März 1838 über die gottesdienstlichen Traditionen der Münchner Synagoge, mit denen ein neuer Weg beschritten und eine Balance zwischen liberalen und konservativen Richtungen erreicht werden sollte:

Allgemeine Zeitung des Judentums im März 1838

»… Der Jude, der durch Jahrhunderte an das ordnungslose, wilde Mitschreien im Gebete gewohnt war, wird sich nicht sogleich an einen deutschen, der hebräischen Sprache ganz fremden Gottesdienst gewöhnen können. Mag auch der gebildetere Teil unter uns, der, der neueren Generation angehörend, der älteren Weise sich nicht leicht anbequemen kann, sich an einem solchen mehr erbauen, mehr erhoben fühlen, als bei dem älteren, weil ihn eben jene ältere Sprache unbekannt geworden, und er im deutschen Chorale eine seiner Bildung und seinen Gefühlen mehr entsprechende Andacht findet: der Alte, der deutschen Sprache unkundig, wird und kann hierin keine Seelenerhebung, keine Herzensandacht finden, und ein großes Unrecht wäre es, wenn man auch nur einem geringen Teil der Gemeinde einen Gottesdienst formen wollte, der ihn nicht entsprechen könnte.

Aber dasselbe Unrecht begeht man gegen den jüngeren Teil, wenn man den Gottesdienst ganz unverbessert ließe, wenn man den Vorsängern ihre ererbten Rouladen und Tiraden herauszuschreien und herauszugurgeln erlaubte, und der Gemeinde ein gellendes, verworrenes Accompagnement gestattete. Denn erstens ist ein erhebender Gottesdienst das einzige sichtbare Band, durch das jener sich lobpreisende Teil mit dem Judentum vereinigt bleibt, und ferner ist der eben jene Anstalt, durch dessen Verbesserung und Umgestaltung am sicherlichsten und förderlichsten auf eine allseitige Verbesserung und Umgestaltung im Judentum selbst gewirkt werden kann.

[…] Deshalb gefällt der Gottesdienst in München so sehr, weil er uns das Alte gelassen, und es als ein Neues uns wiedergegeben hat. Von diesem Gesichtspunkte aus ward nun hier der Gottesdienst geordnet. An den Wochentagen wird bei ruhigem, würdevollem Benehmen der Betenden das Gebet ganz nach alter Weise und Sitte, ohne Abänderung und Abkürzung verrichtet. An Sabbaten und Festtagen aber vertritt in den Responsionen, bei den Benedeiungen, sowie bei den andern sehr zahlreichen und schönen Gesängen der Chor die Gemeinde. Aber eben dieses Vertreten ist es, was den Zweck des Chores verrichtet. Er wird dadurch oft zur Unterhaltung, statt dass er die Gemeinde zum andächtigen Wettgesänge stimmen und aneifern sollte, wenn er neukanzonierte Gesänge mit dem Vorsänger vorträgt, und muss oft langweilen, wenn er die alten, allgemein bekann- ten, Jedermann geläufigen Lieder wiederholt. Die andachstvolle Beschäftigung der Gemeinde, die Aufforderung, dass sie, statt des früheren Wirrwarrs, in kirchlichen Melodien, in schöner herz- erhebender Harmonie ihr Gebet verrichte, das muss der Zweck des Chores sein, nicht aber bloß eine theoretisch-kirchliche Vorstellung, bei welcher die Gemeinde sich entweder unterhält und Beifall zollt, oder sich langweilt, und von profanen Dingen schwätzt. […]

Und drei Jahre später, im August 1841:

»[…] Von der hiesigen Synagoge weiß ich Ihnen nichts mitzuteilen, als dass das ihr zur Zierde gereichende Chorinstitut gedeihlich fortbesteht. Das dasselbe leitende Komitee hat erst jüngst die zweite Lieferung der gottesdienstlichen Gesänge, enthaltend die Piecen für Schalosch Regalim überhaupt sowohl, als auch die besonderen für Pessach, Schawuoth, Sukkot, Hoschana Raba und Simchat Tora, bearbeitet vom Herrn Lehrer Maier Kohn, veröffentlicht, und die Inhaber der ersten Lieferung wer- den sich mit Vergnügen überzeugen, welche reiche Sammlung herzerhebender, schöner, und der jedesmaligen Feier anpassen- den Gesänge ihnen damit geboten werden.«

In den folgenden Jahrzehnten bekamen nicht nur die Münchner, sondern auch die Beter in den anderen großen Gemeinden Süddeutschlands – so in Fürth, Mannheim, Wiesbaden und Frankfurt – von ihren Kantoren und Musikdirektoren Neues geboten.