SÜDSTERNE:CHORMUSIKLANDSCHAFT SÜDDEUTSCHLANDS

Dr. Dietmar WoidkeDas diesjährige Louis Lewandowski Festival widmet sich der weitläufigen und vielfältigen Chormusiklandschaft Süddeutschlands, von den bescheidenen Anfängen der 1830er Jahre bis zu den frühen 1940er Jahren, geschaffen von Komponisten aus dieser Region die sich unter anderem auch der Synagogalmusik widmeten.

Dieses Repertoire ist nicht einfach zu fassen. Geografisch gesehen umschliesst Süddeutschland den unteren Teil der mitteldeutschen Bergschwelle, inklusive der Länder Bayern und Baden-Württemberg sowie dem südlichen Rheinland-Pfalz und Hessen südlich des Mains. Politisch und kulturell sind Südhessen, Rheinhessen und die Pfalz jedoch nur bedingt einzubeziehen. Um nationale und politische Grenzen zu respektieren, wurden Werke von Komponisten aus Österreich und Südtirol ausgeklammert, obwohl Einflüsse und Zusammenhänge offensichtlich sind, wie man der Musik selbst entnehmen kann. Einige mögen an die Werke von Salomon Sulzer erinnern. Später dann hinterließ auch Lewandowski in Süddeutschland seine Spuren, vor allem mit seinen Kompositionen für die Synagoge in Nürnberg.

Ende des 17. Jahrhunderts gründeten sich jüdische Gemeinden

Sicherlich geht die Geschichte der Synagogalmusik in dieser Region diesen Namen weit voraus, reicht doch die erste bekannte jüdische Siedlung in Süddeutschland in das Jahr 906 zurück (dokumentiert in der Mautverordnung von Passau, der drei-Flüsse Stadt, die strategisch an den Handelsrouten nach Ungarn, Südrussland und Nordostdeutschland lag). Doch erst Ende des 17. Jahrhunderts gründeten sich jüdische Gemeinden, die von dauerhafter Präsenz sein sollten, dar- unter Fürth und Ansbach, die beide für ihre Musikpraktiken bekannt sind.

Einfluss auf musikalische Praktiken und Ausdrucksformen

Im Laufe des 19. Jahrhunderts begann die jüdische Bevölkerung, auf die gewaltigen Veränderungen und Entwicklungen, die Mitteleuropa ergriffen zu reagieren: Emanzipation und Akkulturation, Reformbewegung, Zionismus und zunehmen- der Antisemitismus – diese nahmen Einfluss auf musikalische Praktiken und Ausdrucksformen. Und es war zu Beginn dieser Entwicklungen, dass synagogale Chormusik entstand – und zwar in München.

Der Pionier Maier Kohn

Zu den frühen Pionieren gehörte der im mittelfränkischen Schwabach geborene Maier Kohn (1802-1875), der von 1825 bis zu seinem Tod als Pädagoge, Kantor und musikalischer Innovator an der Münchner Synagoge in der Westenrieder Straβe tätig war. Diese Synagoge, die sich an die entstehen- de Reformbewegung anlehnte, begrüßte Kohns Gründung eines gemischten Chores im Jahr 1832. 1839 veröffentlichte Kohn dann die erste moderne Sammlung von synagogaler Chormusik, die so genannten Münchener Synagogengesänge. Für diese Anthologie rekrutierte er einige der bekanntesten Münchner Musiker, die ihm bei der Gestaltung der Musik halfen. Sein „En komocho“ und „Seu simrah“ sind die ersten Zeugnisse für ein den Hazzan begleitendes Trio.

Mit Kohns Werk begann die Entwicklung von Chormusik für den jüdischen Gottesdienst, die traditionelle Melodien präservierte, transformierte und erneuerte oder sich gar von ihnen abwendete. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen können während des Festivals auch im „Howu la ́adonoj“ von Max Löwenstamm (1814-1881), einer Vertonung von Psalm 29 aus Semiroth leel chaj – Synagogen-Gesänge (1882) sowie in den zwischen 1898 und 1926 veröffentlichten Stücken aus Emanuel Kirschners Sammlung Synagogen Gesänge nachvollzogen werden. Beide standen als Kantoren und Chorleiter in der Nachfolge von Maier Kohn. Während Kirsch- ner (1857-1938) in die Fußstapfen von Louis Lewandowski trat und dessen Stil befürwortete, kehrte sich Heinrich Schalit (1886-1976), Organist an der gleichen Synagoge in München, vom Stil des 19. Jahrhunderts ab und suchte neue Ausdrucksformen jüdischer Identität.

Hymne „In Ewigkeit“

Der erste Schritt in eine neue Richtung war Schalits Hymne „In Ewigkeit“ (1928/1929) für Chor, Orgel, Harfe und Violinen, die in München, Frankfurt, Augsburg, Dresden und Berlin mit großem Erfolg aufgeführt und positiv rezensiert wurde. Ein wahrer Durchbruch sollte einige Jahre später erfolgen, mit der Freitagabend-Liturgie op. 29 (1931) für Kantor, Chor und Orgel. Das Werk resultierte aus einer generellen Kritik am Zu- stand der Synagogalmusik, insbesondere der Kompositionen Lewandowskis, die viele für veraltet hielten. Eine Reihe von jüdischen Theoretikern, Komponisten, Interpreten und Musikkritikern – darunter auch Schalit – suchten einen Stil, der die jüdische Gemeinschaft der Weimarer Republik repräsentierte: modern und jüdisch, kosmopolitisch und weltgewandt, den relativen Pluralismus reflektierend, der die jüdische Gemeinschaft jener Zeit definierte, als östliche Klänge als authentisch jüdisch aufgefasst wurden.

Die Musik vermittelte der jüdischer Identität neuen Ausdruck

Die Musik vermittelte nun einen neuen Ausdruck jüdischer Identität im Zuge eines kulturellen Prozesses, den der Philosoph Martin Buber 1903 als jüdische Renaissance bezeichnet hatte – vielleicht ein Äquivalent zur jüdischen Moderne. Am 16. September 1932 brachten die Vereinigte Synagogenchöre Berlin (ein Chorverbund von rund 100 Sängern, die von allen Berliner Synagogenchören angeworben wurden, um große Werke im Konzert aufzuführen) Schalits Freitagabend-Liturgie in der Synagoge Lützowstraße in Berlin zur Uraufführung. Die Premiere, an der auch viele Nichtjuden teilnahmen, hätte kein größerer Erfolg sein können. Musikwissenschaftler wie Alfred Einstein, Hugo Leichtentritt und Curt Sachs sowie Musikdirektor Hermann Schildberger lobten die Freitagabend-Liturgie für den Einsatz von zeitgenössischen Modaltechniken und östlichen Melodien, die zuvor von Abraham Z. Idelsohn (1882-1938) aufgezeichnet worden waren.

Jüdisches Selbstbewusstsein gegen die Polemiken und Angriffe

Einige Jahre später ging Oberkantor Hugo Adler (1894-1955), der das jüdische Musikleben Mannheims maßgeblich prägte, einen anderen Weg, um zu dieser Renaissance beizutragen. Er stützte sich für Balak und Bilam: Biblische Szene aus der Schriftübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig,
op. 17 (1934) für Sopran, Tenor und Bariton solo, Sprecher, gemischter Chor, Streichorchester, Klavier oder Orgel (ad lib.) auf Bertolt Brechts Konzept einer Lehrkantate. Die Kantate verdeutlicht auch, inwieweit Adlers Werk zwischen 1934 und 1938 das jüdische Selbstbewusstsein gegen die Polemiken und Angriffe der NS-Tyrannei stärkte, unter anderem durch die Entwicklung eines einzigartigen jüdischen Musikstils. Ähnliche Ansätze sind auch in den schon früher entstandenen Werken von Jakob Schoenberg (1900-1956) aus Fürth und Paul Frankenburger, heute besser bekannt als Ben-Haim (1897-1984), bemerkbar.

Das Louis Lewandowski Festival bietet Juwelen der Chormusik

Aus dem reichhaltigen Programm ist vielleicht nicht er- sichtlich, dass das Festival nur einen kleinen Einblick – Teile eines Mosaiks – in das Thema gibt. Um regionalen Schätze zu feiern, bietet das Louis Lewandowski Festival diese und andere Juwelen der Chormusik dar. Alle hier vorgestellten Werke zeugen von der Entwicklung und stilistischen Vielfalt der jüdischen Chormusik und ihrer dauerhaften Präsenz auf deutschem Boden.